Die Geschichte des Dorfes Mathildendorf.

Sie ist eingebettet in die europäische Geschichte der letzten 200 Jahre. Jeder möchte wissen, woher er kommt und welche Gene wir von unseren Ahnen weitertragen. Es ist die Geschichte von Menschen, die bereit waren, für eine bessere Zukunft ihr Land zu verlassen. Was sie dort erwartete, waren Mühe und meistens Entbehrungen.

1.) Gründe zur Auswanderung 1781 bis 1807 aus dem Südwesten nach Preußisch-Polen.

  • Wirtschaftliche Not (Felder Teilung bei der Vererbung, und hohe Steuern)
  • Politische Unfreiheit (z.B. zwang man junge Männer, „freiwillig“ Wehrverträge zu unterschreiben.) Preußen unter König Friedrich II. vergrößerte, als Folge der von ihm geführten Kriege, sein Staatsgebiet ganz erheblich durch die dreimalige Teilung Polens (1772, 1793 und 1795). Für die neuen Gebiete warb er um Siedler im deutschen Südwesten hauptsächlich in Württemberg, Baden und der Pfalz.

 

2.) Vorteile für die Siedler in Preußisch-Polen.

  • Übernahme der Reisekosten
  • Verträge über zugeteilte Grundstücke
  • Bau von Haus und Hof auf Staatskosten
  • Lieferung von Zugtieren und Ackergeräten
  • Geld für den Kauf von Werkzeugen
  • 6 steuerfreie Jahre und andere Vergünstigungen
  • Befreiung vom Militärdienst

 

Es war trotzdem sehr schwer, die Höfe waren zu klein bemessen. Das kleine Glück währte aber nicht lange. 1807 entstand unter Napoleons Einfluss das Herzogtum Warschau. Die deutschen Siedler wohnten jetzt in einem polnischen Staat. Alle Vergünstigungen waren weg, und Schikanen an der Tagesordnung.

  • trotz der Missernte 1807 wurden willkürlich Erbzinszahlungen gefordert sowie Sachlieferungen für des neue polnische Heer
  • viele polnische Großgrundbesitzer schikanierten die freien deutschen Bauern
  • der katholische Klerus schürte den Religionshass

Deshalb verließen viele deutsche Kolonisten schon 1809 ihre Höfe im Herzogtum Warschau. 1813 besetzten Russen das Gebiet. Der russische Zar wurde König von „Kongress-Polen.“ Nach den oben geschilderten Missständen ist verständlich, dass viele deutsche Bauern dem Aufrufe des Zaren Alexander I. nach Bessarabien folgten.

 

3.) Folgende Privilegien wurden zugesichert:

  • Die russische Regierung nimmt die Kolonisten unter besonderen Schutz und gewährt ihnen alle Rechte der russischen Staatsbürger.
  • Von den Kolonisten wird verlangt, dass sie sich vorzugsweise mit der Verbesserung des Land-, Garten-, Wein-, und Seidenanbaus beschäftigt.
  • Sie sind 10 Jahre von allen Abgaben und Grundsteuern befreit.
  • Es werden jeder armen Familie je 270 Rubel ausbezahlt; den Anderen so viel, wie sie für die erste Einrichtung benötigen.
  • Jeder Familie werden zu ihrem persönlichen und erblichen Eigentum 66 ha Land zugeteilt.
  • Außerdem erhalten alle diejenigen, welche keine Lebensmittel haben, vom Tage ihrer Ankunft in Russland für jede Seele pro Tag 5 Kopeken Nahrungsgeld bis zur ersten Ernte.
  • Die Einwohner sowie ihre Nachkommen sind ein für alle Mal von der Rekrutenaushebung frei, ebenso von militärischen Einquartierungen, für den Fall ausgenommen, wenn Durchmärsche stattfinden.
  • Es steht den Kolonisten frei, ihrer Religion gemäß Kirchen zu bauen, Geistliche zu halten und ihre Religionsbräuche nach ihrer Weise auszuüben.
  • Nach Ablauf von 10 Jahren werden andere 10 Jahre bestimmt, in welchen die den Kolonisten gewährten Unterstützungen der Krone zurückzuzahlen sind

(Wagner, Zur Geschichte Bessarabiens, S.9)

 

Im Herbst 1814 kamen 115 Familien mit 623 Seelen nach Borodino/Bessarabien. Aus Kongresspolen den Räumen: Kulm, Posen, Lodz und Warschau. Ursprünglich kamen:

  • 64 Familien aus dem Königreich Württemberg
  • 22 Familien aus den Herzogtümern Mecklenburg
  • 18 Familien aus Westpreußen (deutschsprachige Hauländer)
  • 9 Familien aus dem Großherzogtum Baden
  • 2 Familien aus dem Königreich Sachsen

(aus Ernst Höger Familienbuch Borodino)


Sie mussten in den umliegenden moldawischen Dörfern Herberge nehmen, bevor im Frühjahr 1815 mit dem Bau von Häusern begonnen werden konnte (Häuser aus Geflecht und Lehm.) Die ersten Jahrzehnte waren trotzdem sehr hart:

  • 1822 – 1827: völlige Missernten
  • 1838 + 1839: durch Hagel wird die Ernte fast ganz zerstört
  • 1824 + 1827 + 1833 + 1845: durch Viehseuchen verheerenden Schaden genommen
  • 1825 + 1836 + 1845: durch Heuschrecken große Getreideverluste
  • 1838: das schwarze Jahrhundert-Hunger-Jahr! Cholera und Ruhr forderten viele Tote
  • 1829: die Pest. Borodino nur einzelne Tote. In Tarutino und Alt Arzis 75 % Tote.
  • 1828 + 1829, auch 1853 – 1856: beim Türkenkrieg durch Militärdurchmarsch belastet.

Nach dem Kriege kamen Jahrmärkte auf, hohe Preise für Getreide und Vieh wirkten sich sehr schnell zum Positiven aus. Schon 1858 reichten die Felder in Borodino für die schnell wachsende Bevölkerung nicht mehr aus. Deshalb wurde 15 km nördlich am Fluss Tschaga eine Tochterkolonie geschaffen. Ein deutscher Baron Namens Ginzburg hatte durch Dienste beim Zaren ein paar tausend Hektar Land, das er verpachten wollte. Seine Frau hieß Mathilde – das gab dem Dorf seinen Namen. Es wurde ein Straßendorf mit 100 Höfen angelegt und hauptsächlich von Söhnen Borodiner Bauern erbaut. Der Lebensstandard stieg zu einem bescheidenen Wohlstand. 1895 verkauften die Nachkommen Ginzburg das Land.

4.) Während des ersten Weltkrieges kämpften die Deutschen gegen ihr Vaterland (die Befreiung vom Militärdienst wurde Ende des 19. Jahrhunderts aufgehoben), später nur noch an der türkischen Front. Es gab Pläne, die gesamte deutsche Bevölkerung nach Sibirien umzusiedeln. Die russische Oktober- Revolution verhinderte die Durchführung. Die Wirren der Revolution nutzend, haben die Rumänen, mit Billigung der Bevölkerung, Bessarabien annektiert.

 

Es folgten neue Zeiten mit der Anpassung an Rumänien, bis im Sommer 1940 nach der Kapitulation der Rumänen deutsche und russische Soldaten in Bessarabien einmarschierten. Der Hitler-Stalin-Pakt sah vor: Das Land wieder zurück an die Sowjetunion. Die ca. 93.000 Deutschen „heim ins Reich“. Bleiben mussten die, die keinen Deutschen geheiratet hatten. Aber das waren ganz wenige.

Im Oktober 1940 ging es mit Schiffen über die Donau von Galatz bis Wien, dort wurden wir in Böhmen und später in Polen ca. 1 ½ Jahre in Lagern untergebracht. Ironie des Schicksals: Vielen bessarabischen Bauern wurde wieder ein Hof in Polen angeboten, fast genau dort, wo ihre Vorfahren 125 Jahre vorher ausgewandert waren. Nur, dass die polnischen Bauern jetzt enteignet wurden, um den Deutschen den Hof zu überlassen. Unter diesem Frevel haben die ehrlichen deutschen Heimkehrer gelitten. Aber das Heer brauchte Brot von deutschen Feldern.

Die Episode war kurz. Im Januar 1945 galt es zu fliehen vor dem russischen Heer. Die meisten haben es geschafft, einige wurden zurück nach Bessarabien oder nach Sibirien verschleppt. Alle Landsleute haben sich in ganz Deutschland ohne Probleme integriert. Ironie des Schicksals: Viele wohnen im Südwesten Deutschlands, wo ihre Vorfahren das Land einst verlassen hatten.

 

Januar 2012

Arthur Scheurer